Wenn Feedback zum Schulzeugnis wird: Warum Jahresfeedback-gespräche uns kleinhalten
- felicitasjungnitsc
- 14. Okt.
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 11. Nov.
Sie entmündigt und degradiert. Sie hat sich heimlich, still und leise angeschlichen und sich in unser Denken und Handeln eingenistet. Sie meint es vordergründig gut, wirkt aber verheerend.
Die Rede ist von der Verschulung der Arbeitswelt.
Ja, Sie haben richtig gelesen: unsere Arbeitswelt ist verschult - Lehrer, Schüler und Noten inklusive. Anstatt tragfähige Leistungsorganisationen zu sein, haben viele Unternehmen den Weg hin zur pädagogischen Einrichtung beschritten, die lieber am Mitarbeiter herumerzieht als sich um ihre Kunden zu kümmern. Zahlreiche Unternehmen sind die betreuende Anschlussstelle nach Schule und Berufsausbildung geworden: sie bewerten, begleiten, beaufsichtigen den Mitarbeiter. Zwar meist freundlich, aber im Endeffekt dennoch entmündigend.
Das glauben Sie nicht?
Dann geben wir in diesem und den folgenden Artikeln gerne ein paar Beispiele. Beginnen wir mit der Feedbackkultur.

Beurteilung statt Verantwortung
In vielen Unternehmen läuft eine Beurteilungsmaschinerie wie im Schulwesen: waren es zu Schulzeiten Kopf- und Leistungsnoten, Lerntagebücher und Elterngespräche zur Lernentwicklung, so sind es in heutigen Unternehmen Kompetenzmodelle, Entwicklungsstufen, 360°-Feedback, Potenzialraster und Jahresfeedbackgespräche. Was im ersten Moment logisch und sinnvoll erscheint, ist auf den zweiten Blick ein endloses Zeugniswesen. Mitarbeiter werden bewertet, benotet, eingeordnet und bei Bedarf gecoacht und gefördert. Für einen bestimmten Bereich umfassend verantwortlich gemacht werden sie hingegen eher selten.
Wie ist das bei Ihnen? Führen Sie Jahresfeedbackgespräche und müssen Ihre Mitarbeiter bewerten? Vielleicht sogar mit Noten? Geben Sie Entwicklungsempfehlungen für Ihre Mitarbeiter ab oder coachen Sie sie gar selbst? Und wird Ihnen von Ihrem Vorgesetzten auch eine Bewertung zuteil?
Anstatt Gespräche über Arbeitsergebnisse und Weiterentwicklungsideen zu führen, also Dinge zu tun, die dem Unternehmen nützen, weil sie sich mit dem Kunden beschäftigen, müssen Jahr für Jahr Millionen Menschen zu Bewertungsgesprächen, freundlich Feedbackgespräche genannt, erscheinen und Rechenschaft ablegen über ihre Leistungen und ihr Verhalten. Als Dank für Ihr Erscheinen erfahren sie, wie ihr Lehrer, äh pardon, ihre Führungskraft ihr Auftreten und ihre Arbeitsergebnisse bewertet.
Aber wozu das Ganze? Reden Führungskräfte und Mitarbeiter unterjährig nicht miteinander, sodass es 1x oder 2x im Jahr einen Termin braucht, damit man wenigstens dann in Kontakt ist und ungestört reden kann? Und was ist mit den vielen Monaten, die zwischen den Gesprächen liegen? Müssen beide Seiten mit ihren Gesprächsbedarfen, Entwicklungswünschen und Problemen abseits des Tagesgeschäftes hinterm Berg halten? Das schafft doch nur Unzufriedenheit und ist keine gute Basis für ein gutes Arbeitsklima. Und was macht der jeweils andere mit einem Feedback, dass sich auf Situationen bezieht, die schon Monate her sind? Braucht das noch einer? Da fragt sich doch (fast) jeder, was das soll und wieso nicht zeitnah miteinander gesprochen wird. Das wäre die erwachsene Art, mit wichtigen Themen umzugehen.
Wenn Sie jetzt einwerfen, das sei unbequem und zeitraubend – ja. Aber mal ehrlich: Führen wir nicht lieber Gespräche zu den Themen, die uns und unsere Mitarbeiter wirklich beschäftigen und bei denen wir umgehend etwas zum Positiven verändern können als zeitlich festgeschriebene Dialoge und Monologe, die auch noch standardisiert ablaufen und uns reichlich Vor- und Nachbereitungszeit kosten? Rechnen Sie gerne durch, wie viel Vor- und Nachbereitungszeit Sie pro Mitarbeiter und Jahresfeedbackgespräch benötigen. Dazu kommt dann noch die Zeit für das eigentliche Gespräch. Angenommen, Sie haben 10 Mitarbeiter und brauchen für die Vor- und Nachbereitung je 30 Minuten. Das eigentliche Gespräch dauert 60 Minuten. Dann kommen Ihrerseits 2 Stunden je Mitarbeiter auf die Uhr. Ihr Mitarbeiter investiert die gleiche Zeit – und schon sind es 4 Stunden je Gespräch. Das Ganze mal 10 Mitarbeiter bedeutet, dass Ihrer Abteilung 40 Stunden fehlen. Eine volle Arbeitswoche eines Vollzeitmitarbeiters verraucht einfach so, um einer Formalie zu genügen, die irgendwer irgendwann beschlossen hat. Und es kommt noch besser: die Gesprächsbögen werden üblicherweise noch von der Personalabteilung gegengeprüft, also wird unternehmensseitig noch mehr Zeit in ein künstliches Gespräch gepumpt, das keinem einzigen Kunden einen Mehrwert verschafft. Das ist betriebswirtschaftlicher Irrsinn.
Ungleichgewichte und Wunschlisten
Schauen Sie sich die üblichen Gesprächsleitfäden und Fragebögen zu Jahresfeedbackgesprächen gerne an. Fällt Ihnen auf, dass es ein großes Ungleichgewicht im Bewertungsumfang von Mitarbeiter und Führungskraft gibt? Während das Verhalten und die Leistungen des Mitarbeiters meist detailliert analysiert werden, gilt das umgedreht für die Führungskraft nicht. Da kommen lieber kurz und knapp ein paar Allgemeinplätze wie „Ist Ihre Führungskraft authentisch? Kommuniziert Sie ausreichend? Unterstützt sie Sie bei Ihrer Weiterentwicklung?“. Ist das ein Miteinander auf Augenhöhe? Sollten erwachsene Vertragspartner so unterschiedlich mit „Rechten“ ausgestattet werden? Wohl kaum. Und wenn die Führungskraft den Mitarbeiter so umfassend bewerten und benoten kann, sollte das doch umgedreht auch in Ordnung sein.
Meist findet diese Gleichwertigkeit nicht statt. Das Gespräch dafür aber schon, denn Fernbleiben oder das Treffen komplett ablehnen, ist nicht drin. Jahresfeedbackgespräche sind vielerorts Zwangsveranstaltungen – für Mitarbeiter und Führungskräfte. Wir kennen den Druck der Personalabteilung, wenn die Gespräche nicht wunschgemäß terminiert und durchgeführt werden. Wozu das Ganze gut sein soll und wer daraus einen konkreten Mehrwert zieht, bleibt jedoch weithin unbeantwortet.
Wem fällt bei diesen ganzen Regularien für ein simples Gespräch dann noch auf, dass es unnötige Bedarfe weckt? Das gut gemeinte Institutionalisieren von Gesprächen weckt Bedarfe, um zum Beispiel über mögliche Gehaltserhöhungen, Incentives und Weiterbildungen zu sprechen. Wenn der Mitarbeiter nur 1x im Jahr die Chance hat, diese Punkte anzusprechen, dann tut er es auch. Fragen kostet ja nichts. Könnte er jederzeit nach mehr Gehalt fragen, müsste er diesen Wunsch begründen, was in der Regel bedeutet, dass das Unternehmen und die Kunden aus seinem Engagement einen besonderen Mehrwert ziehen müssten, um die Gehaltssteigerung wirtschaftlich zu rechtfertigen. Verknappt man die Möglichkeit, Gehaltsgespräche zu führen, durch Jahresfeedbackgespräche künstlich, wird diese stimmige Kette aus erbrachtem Mehrwert für die Kunden, mehr Gewinn für das Unternehmen und mehr Gehalt für den Mitarbeiter durchbrochen. Dann wird der Tag des Jahresfeedbackgespräches der Tag im Jahr, an dem der Mitarbeiter seine Wunschliste einreichen kann, denn wie schon gesagt „Fragen kostet ja nichts“. Leider haben Sie als Führungskraft nun Anfragen und Erwartungen auf dem Tisch, die es sonst in dieser Fülle nicht gegeben hätte. Sie sind jetzt in der schwierigen Lage, aus einem unnötigen Wunschkonzert eine Situation zu schaffen, die nicht in Frustration für alle Beteiligten endet.
Gehen wir noch etwas weiter in die Vogelperspektive. Was haben Ihre Kunden davon, dass Sie Jahresfeedbackgespräche mit Ihren Mitarbeitern abhalten (müssen)? Nichts. Ihren Kunden ist egal, wie Sie interne Themen und Gespräche regeln. Sie wollen nicht dafür bezahlen und werden es auch nicht. Deswegen ist es sinnvoll, das Thema Jahresfeedbackgespräche zu überdenken und zu fragen „Wem nützt das Ganze eigentlich?“ und „Was hat das alles mit Führungsarbeit zu tun?“. Führung hat den Zweck, die Gewinne für das Unternehmen zu steigern. Das beinhaltet, dass die ausgeführte Arbeit dem Kunden nützt. Inwieweit ein Jahresfeedbackgespräch genau das tut, kann sich jeder selbst beantworten.
Einmal Rundumblick bitte!
Immer häufiger trifft man das 360°-Feedback an. Als Wundermethode angeprangert, die einen klareren Blick auf den einzelnen Mitarbeiter, vorzugsweise die Führungskraft, ermöglichen soll, hält dieses Werkzeug bei genauerem Hinsehen einige unerwünschte Nebenwirkungen bereit.
Und helfen all diese Benotungen dem Bewerteten, bessere Arbeitsergebnisse zu erzielen? Erzwingen sie nicht regelrecht sozialkonformes Verhalten, weil man sonst in der nächsten Bewertungsrunde abgestraft wird?
Unternehmen leben von Kontroversen, von Reibungen und Mitarbeitern, die Dinge auch mal anders ausprobieren wollen. Überbordende Feedbackrunden, in denen jeder jeden bewerten kann, strafen diese Kontroversen ab und erzeugen sozial erwünschtes Verhalten. Alle nicken nur noch freundlich und die Innovationen bleiben auf der Strecke.
Was also gewinnen Unternehmen tatsächlich durch 360°-Feedbacks? Nichts. Stattdessen verlieren sie durch diese ausgeprägte Form der Selbstbeschäftigung nur Zeit, die sie besser dem Dienst am Kunden widmen sollten.
Was bleibt nach dem Feedback übrig?
Mit künstlichen Bewertungsritualen, die als wertschätzende Jahresfeedbackgespräche, wertvolle 360°-Feedbacks oder ähnliches getarnt werden, verkommen sinnvolle Rückmeldung und Abstimmung zu pädagogischen Mitteln, die den Mitarbeiter formen sollen. Die Führungskraft wird, meist ohne es zu merken, zum Lehrer. Der Mitarbeiter wird zum Schüler, der passiv empfängt, was der Lehrer ihm mitteilt. Dabei sollten Abstimmungen und Rückmeldungen etwas ganz anderes sein: ein sachlicher Dialog, der dann stattfindet, wenn es um die Qualität von Ergebnissen, die Ausgestaltung der Zusammenarbeit und die Ausrichtung der weiteren Arbeitsschritte geht. Denn erst dann kann Verantwortung übertragen und übernommen werden. Mit Bevormundung und Benotung vom Lehrerpult herab wird das hingegen nichts. Denn Verantwortung entsteht dort, wo Entscheidungen und ihre Folgen zusammenfallen - und nicht im Feedbackbogen.
Was können Sie tun?
Wann immer möglich meiden Sie Feedback, das ja nichts anderes als das Kundtun Ihrer persönlichen Meinung ist, und führen Sie stattdessen konstruktive Dialoge. Das heißt Zuhören, Nachfragen, Verstehen, gemeinsam ausloten, was jeweils möglich und zielführend ist. Und zielführend bedeutet immer, das Wohl des Unternehmens zu berücksichtigen, nicht vorrangig und ausschließlich die persönlichen Wünsche der Mitarbeiter.
Sehen Sie Ihre Meinung als das an, was sie ist: Ihre Meinung, nicht die Ihrer Mitarbeiter und Kollegen. Bescheidenheit und das Wissen um eigene Denkfehler führen zu angemessener Zurückhaltung an den richtigen Stellen.
Fragen Sie sich, bevor Sie sprechen, was Ihre Rückmeldung jeweils bewirken soll. Geht es um tatsächlich notwendige Hinweise, die Schaden abwenden, etwas Schiefes begradigen oder im Interesse des Kunden erfolgen? Dann ab ins Gespräch. Oder geht es nur darum, die eigene Sichtweise unbedingt in ein Thema einbringen zu wollen, ohne dass das nottut? Dann ist Schweigen Gold.
Anstatt sie zu bewerten, befähigen Sie Ihre Mitarbeiter lieber dazu, eigenständig zu handeln, Entscheidungen selbst zu treffen und aus den Folgen zu lernen.
Feedback ade, Mehrwert für alle
Kunden profitieren nicht davon, wenn Mitarbeiter bewertet und benotet werden. Unternehmen auch nicht. Und Mitarbeiter schon gar nicht. Aber was haben Ihre Kunden, das Unternehmen, Ihre Mitarbeiter und Sie als Führungskraft davon, wenn die moderne Feedbackkultur in ihre Schranken verwiesen wird?
Kunden spüren, wenn Unternehmen vorrangig um sich selbst kreisen und in der Selbstbeschäftigung, zu der interne Feedbackrunden zweifelsohne gehören, gefangen sind. Genauso spüren sie, wenn sie im Mittelpunkt des Unternehmens stehen, weil jeder Mitarbeiter so viel Arbeitszeit und -energie wie möglich dem Dienst am Kunden widmet. Und das honorieren sie durch Käufe, Kundentreue und Weiterempfehlungen.
Das Unternehmen gewinnt durch den Wegfall der beschriebenen internen Feedbackschleifen wertvolle Zeit, um sich auf seine wertschöpfenden Prozesse und die Stärkung der Kundenbindungen zu konzentrieren.
Die Mitarbeiter können sich endlich ohne Benotungseinheiten in der Erwachsenenwelt bewegen und sich um die Dinge kümmern, die bei der Einstellung oder in späteren Nachträgen vertraglich vereinbart wurden.
Und Sie als Führungskraft können sich um die wirklich relevanten Aspekte Ihrer Arbeit kümmern, anstatt Zeugnisse, Beurteilungen und Weiterbildungsempfehlungen für Ihre Mitarbeiter zu schreiben. Denn echte Führung beginnt dort, wo Menschen nicht bewertet, sondern befähigt werden, eigenständig Entscheidungen zu treffen und aus ihren Ergebnissen zu lernen. Und das ist doch ein deutlich schönerer Ausblick in die Zukunft als jener auf die nächste Bewertungsrunde.
Im nächsten Artikel erfahren Sie, warum Zielvereinbarungen Sackgassen sind, die weder das Unternehmen noch Ihre Mitarbeiter zu sinnvollen Zielorten führen.
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