Fördern oder führen? Warum Führung keine Betreuung ist
- felicitasjungnitsc
- 4. Nov.
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 11. Nov.
Wir arbeiten in einer Zeit, in der Unselbstständigkeit einen hohen Stellenwert in vielen Unternehmen hat. Bevor Sie jetzt empört aufschreien oder den Artikel kopfschüttelnd wieder schließen, halten Sie kurz inne und lassen den ersten Satz auf sich wirken.
Ja, Unselbstständigkeit wird heute in vielen Unternehmen nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert. Und das auf mehreren Ebenen:
Durch umfassende Regelwerke, Prozesse und Checklisten, die jeglichem Selbstdenken vorweggreifen, indem sie jede noch so unwahrscheinliche Situation beschreiben und konkrete Handlungsanweisungen geben.
Durch Freigabestufen und -schleifen, die Vertrauen und Verantwortungsübernahme im Keim ersticken und Mitarbeiter zu stupiden Ausführungsgehilfen machen.
Durch Feedback- und Zielgespräche, die das Verhalten der Mitarbeiter bewerten und einordnen, anstatt für Verantwortungsfreiräume und daraus resultierende Erfahrungen zu sorgen.
Durch Meetings, in denen vorrangig gesprochen, aber meist nicht gehandelt wird.
Durch eine Fehlerkultur, die zuvorderst die Fehlerlosigkeit als Ideal stilisiert, anstatt zu erkennen, dass Menschen den größten Lerneffekt aus selbstgemachten Fehlern ziehen.
Durch eine Sprache, die vom Fördern, Begleiten, Abholen, Mitnehmen, Entwickeln und Coachen redet und nur im stillen Nachsatz mitteilt, dass sie niemandem etwas zutraut.
Durch eine Wohlfühl- und Kuschelkultur, in der Reibung unerwünscht ist, weil sie den Betriebsfrieden stört.
Durch Weiterentwicklungsprogramme, die sich nicht auf fachlich erforderliche Themen konzentrieren, sondern den Mitarbeiter mit seiner persönlichen Entwicklung in den Fokus nehmen.
All diese Maßnahmen sind moderne Formen der Mitarbeiterbetreuung. Aber wozu brauchen Mitarbeiter spezielle Betreuung? Kommen sie nicht allein im Arbeitsalltag zurecht und kann man ihnen nicht zutrauen, dass sie sich eigenständig Unterstützung holen, wenn sie sie brauchen?
Schauen wir uns zur Beantwortung dieser Fragen die gängigen Mittel zur Mitarbeiterförderung an.

Weiterentwicklungsprogramme als Selbstzweck
Die üblichen Weiterbildungsprogramme in Unternehmen befassen sich meist mit der persönlichen Entwicklung der Mitarbeiter: Kurse für besseres Zeitmanagement, Kommunikationslehrgänge, Empathie-Trainings, Seminare zur Kunst des Feedbackgebens und Teamentwicklungsworkshops. Und auch speziell für Führungskräfte gibt es eine breite Palette an Kursen zur effektiven Mitarbeiterführung, zur Steigerung der Motivation, zum Konfliktmanagement und zu erfolgreichen Führungsstilen. Sie alle wollen uns als Persönlichkeiten bereichern und für ein besseres Arbeitsergebnis sorgen. Doch tun sie das wirklich? Oder fördern sie nicht vielmehr die Unselbstständigkeit der Mitarbeiter?
Fragt man in Unternehmen nach, warum sie ihre Führungskräfte und Mitarbeiter in solche Kurse schicken, lautet die pauschale Antwort meist: „Jeder Mitarbeiter soll sich entwickeln, lebenslang lernen, neue Systematiken kennenlernen, sich coachen lassen. Das ist zeitgemäße Mitarbeiterführung und auch -bindung. Wir unterstützen und ermöglichen das.“
Dabei wird völlig übersehen, dass es sich bei diesem Lern- und Entwicklungswahn um eine Mode handelt, die auf einem Trugschluss basiert. Denn mehr Lernen erzeugt nicht automatisch mehr Leistung oder Reife bei den Mitarbeitern und wappnet ein Unternehmen auch nicht zwangsläufig gegen die Unwägbarkeiten der Zukunft.
Aus der ursprünglichen ökonomischen Notwendigkeit, die Leistung aller Mitarbeiter zu steigern, ist eine moralische Verpflichtung für alle Beteiligten geworden. Führungskräfte sollen ihre Mitarbeiter entwickeln, Mitarbeiter sollen an sich arbeiten, Personalabteilungen sollen Entwicklungslandschaften gestalten. Anstatt zu fragen „Was will der Kunde? Was braucht der Markt?“ wird mantraartig ein „Wir müssen uns entwickeln“ gesummt, das nicht mehr hinterfragt wird. Lernen ist zum Selbstzweck geworden. Das Unternehmen beschäftigt sich mit seiner eigenen Entwicklung, aber vergisst die Wertschöpfung. Ob das Lernen und das Weiterentwickeln dem Unternehmen tatsächlich nützen, wird kaum mehr gefragt.
Zugleich kaufen sich Unternehmen mit dieser Haltung die Unselbstständigkeit der Mitarbeiter ein. Denn die können die Verantwortung für ihre persönliche Entwicklung an die betreuenden Trainer, Coaches und an das Unternehmen selbst abgeben. Denn es ist sehr bequem zu sagen „XY hat empfohlen, dass… Für das schlechte Ergebnis kann ich nichts, denn ich habe nur gemacht, was mir gesagt wurde.“ oder „Wenn das Unternehmen nicht bereit ist, in meine persönliche Weiterentwicklung zu investieren, kann ich auch nichts an den Ergebnissen ändern.“
Begleitung bis zur Unselbstständigkeit
Führung wird zunehmend mit Begleitung und Anleitung verwechselt. Kaum jemand arbeitet wirklich eigenständig. Vielmehr werden die meisten Schritte der Mitarbeiter „unterstützt“. Meetings, Feedbacks, Freigabeschleifen und Mitarbeitergespräche: die Arbeit wird beinahe standardmäßig moderiert, kommentiert und eingeordnet. Führungskräfte agieren wie Klassenlehrer, die Lernprozesse beobachten, Feedback geben und lenkend eingreifen.
Was wie hilfreiche Unterstützung aussieht, ist in Wahrheit eine traurige Mischung aus Misstrauen, Kontrolle und unnötiger Einmischung. Die offizielle Botschaft lautet: „Ich begleite dich, damit du es lernst.“, die wahre Botschaft heißt: „Ich traue dir nicht zu, es allein zu können.“ Aber wieso nicht? Arbeiten wir in Dauerschleife mit Auszubildenden und Neulingen, denen wir erklären müssen, was wie und warum zu tun ist? Müssen wir tatsächlich alles wissen und entscheiden, damit die Ergebnisse gut werden? Und haben wir das dicke Ende schon im Blick: den unmündigen und vollkommen unselbständigen Mitarbeiter, der täglich klare Handlungsanweisungen und Denkbetreuung braucht?
Wir können unseren Mitarbeitern zutrauen, selbst zu denken und vorausschauend zu handeln. Pädagogische Daueraufsicht ist nicht nötig, ebenso wie institutionalisiertes Mitarbeitercoaching oder überbordendes Mentorentum. So bekommen wir nicht nur selbstbewusste und eigenständig arbeitende Mitarbeiter, die Freude und Sinn in ihrem Tun finden, sondern auch eine Menge Zeit für Führungsaufgaben, die wirklich nötig sind. Zugleich nehmen wir einen immensen Druck von unseren Schultern, denn wir sind dann nicht mehr stets und ständig für alles und jedes zuständig.
Tauschen Sie Kontrollfixierung und Mikromanagement gegen selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Arbeiten für alle und lassen Sie nicht länger zu, dass Sie als Coach und Lehrer zweckentfremdet und ihre Mitarbeiter zu unmündigen, noch zu entwickelnden Schülern degradiert werden. Denn wer Mitarbeiter wie unselbstständige Kinder behandelt, bekommt genau das zurück: unselbstständige Mitarbeiter, die sich wie Kinder verhalten.
Der Eingriff in die Persönlichkeit
Die genannten Weiterentwicklungs- und Kontrollmaßnahmen dienen dazu, einen vermeintlichen Mangel zu beheben, den der betreffende Mitarbeiter in sich trägt. Sei es seine Art der Kommunikation, das ausbaufähige Zeitmanagement, die generelle Form des Umgangs mit den Kollegen oder die grundsätzliche Art und Weise, wie die Arbeit ausgeführt wird. Immer schwebt ein „So, wie du bist, bist du nicht gut genug“ darüber. Doch wer befindet mit welcher Befähigung darüber, was gut genug ist? Am Ende doch nur der Kunde, indem er uns wissen lässt, ob er mit der erbrachten Leistung zufrieden ist.
Wir vergessen in dem pauschalen Wunsch nach Weiterentwicklung für alle, dass wir es mit erwachsenen Menschen zu tun haben, die im privaten Bereich oft viel Verantwortung tragen:
für Kinder, die sie großziehen,
für Häuser, die sie bauen,
für Eltern, die sie pflegen,
für Partner, mit denen sie Existenzen sichern,
für Vereine oder Ehrenämter, die sie leiten,
für Nachbarschaften, in denen sie verlässlich sind und
für unzählige andere Entscheidungen, die über Jahre rechtliche, finanzielle und familiäre Bedeutung für sie haben.
Diesen Menschen können wir durchaus zutrauen, auch im Beruf Verantwortung zu tragen. Verantwortung für ihren Aufgabenbereich, Verantwortung für die Konsequenzen aus ihrem Handeln, Verantwortung für ihre fachliche Entwicklung.
Und die persönliche Entwicklung belassen wir da, wo sie hingehört: im Privaten. Denn jeder Mensch kann selbst entscheiden, ob und wo er sich entwickeln möchte. Dafür braucht es kein bevormundendes Unternehmen.
Die Rückkehr in die Erwachsenenwelt
Mitarbeiter brauchen keine spezielle Betreuung. Sie brauchen Orientierung, Entscheidungsräume und die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen. Wir können ihnen guten Gewissens zutrauen, dass sie sich eigenverantwortlich im Arbeitsalltag zurechtfinden und sich selbstständig Unterstützung holen, wenn sie sie brauchen.
Lassen Sie die Betreuungsmaßnahmen sein. Sie führen keinen Kindergarten, sondern eine Abteilung, eine Niederlassung oder ein komplettes Unternehmen mit erwachsenen Menschen. Ermöglichen Sie Ihren Mitarbeitern lieber die Übernahme von Verantwortung.
Nehmen Sie Abschied von künstlich geschaffenen Lernräumen, die am Ende keinen Mehrwert für das Unternehmen und Ihre Kunden bringen, und öffnen Sie Ihren Mitarbeitern stattdessen echte Entscheidungsräume im Arbeitsalltag. Mit allen Risiken und Folgen, wie das in der Erwachsenenwelt so üblich ist.
Und beenden Sie das Herumdoktern an der persönlichen Entwicklung Ihrer Mitarbeiter. Das ist nicht Ihre Baustelle. Ihre Aufgabe ist es nicht, Menschen zu formen, sondern Bedingungen zu schaffen, unter denen Verantwortung entstehen kann.
Echte Entwicklung und Reife kann bei Ihren Mitarbeitern nur dann entstehen, wenn sie erfahren dürfen, welche Wirkung ihr Handeln beim Kunden hat. Führung schafft die Voraussetzungen dafür.
In unserem nächsten Artikel erfahren Sie, warum Feelgood-Programme das Büro in einen Indoorspielplatz verwandeln und warum das Unternehmen damit mehr verliert als gewinnt.
Sie wollen informiert werden, sobald ein neuer Artikel online ist?
Dann melden Sie sich für unseren kostenlosen Newsletter an.
